Politik

SPD-Parteitag fordert indirekt Aussetzung der Schuldenbremse

Von Michael Fischer, Theresa Münch und Christian Johner

Die Unzufriedenheit mit dem Kanzler ist Umfragen zufolge so groß wie noch nie. Auch in seiner Partei hat es zuletzt rumort. Auf dem Parteitag zeigt er sich unbeeindruckt und kämpferisch. Die Delegierten danken es ihm.

Die SPD hat sich angesichts der Haushaltskrise indirekt für die Aussetzung der Schuldenbremse auch im Jahr 2024 stark gemacht. «Verfassungsrechtlich vorgegebene Spielräume für den Haushalt» müssten im Sinne der Bevölkerung genutzt werden, beschlossen die Delegierten des Bundesparteitags am Samstag einstimmig. Politisch sei mit dem Ukraine-Krieg die Voraussetzung für eine Notlage gegeben, die eine erweiterte Kreditaufnahme ermögliche. Die Formulierung könnte aber Interpretationsspielraum zulassen.

Parteichefin Saskia Esken betonte: «Wir können nicht Krisenbewältigung aus dem Normalhaushalt stemmen.» Die Ausnahmeregel der Schuldenbremse müsse nochmals gezogen werden. Die SPD sei nicht bereit, Mittel zur Bewältigung des Ukraine-Kriegs und seiner Folgen durch Kürzungen im Sozialhaushalt zu finanzieren.

Rede des Bundeskanzlers

Bundeskanzler Olaf Scholz hatte die SPD zuvor zur Geschlossenheit aufgerufen, um dem dramatischen Umfragetief der Partei und der Haushaltskrise zu trotzen. «Wir müssen zusammenhalten und einen klaren Kurs haben», sagte der Kanzler am Samstag in einer kämpferischen Rede vor den 600 Delegierten des Parteitags in Berlin. Einem Abbau des Sozialstaats und den von der FDP geforderten Einschnitten beim Bürgergeld erteilte Scholz eine klare Absage. Das Konfliktthema Abschiebung abgelehnter Asylbewerber sparte er aber aus.

Fast fünf Minuten stehender Applaus

Die Delegierten feierten Scholz mit fast fünf Minuten stehendem Applaus. SPD-Chefin Saskia Esken dankte ihm anschließend für seine Rede: «Jeder und jede hier im Raum spürt, dass du hier zu Hause bist», sagte sie.

Die klare Rückendeckung für den Kanzler war nicht unbedingt zu erwarten. In den vergangenen Monaten hatte sich angesichts schlechter Umfragewerte Frust in der Partei breitgemacht. Die SPD liegt nur noch bei 14 bis 17 Prozent. Bei der Bundestagswahl 2021 waren es noch 25,7 Prozent. Die Unzufriedenheit mit der Arbeit des Kanzlers ist so groß wie noch nie. Nach einer aktuellen Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov findet nur noch jeder Fünfte gut, wie Scholz die Regierung führt.

51 Minuten ohne Manuskript

Davon zeigte sich der Kanzler unbeeindruckt. Er trat zwar mit einem gefalteten Zettel ans Rednerpult, hielt seine 51-minütige Rede dann aber durchgehend frei. Manche hätten damit gerechnet, dass es auf dem Parteitag mit dem Zusammenhalt der SPD vorbei sei, sagte er gleich zu Beginn. Doch das werde nicht passieren. «Diese sozialdemokratische Partei wird auch die nächsten Jahre gemeinsam zusammen arbeiten.»

Scholz blickte vier Jahre zurück. Auch damals sei die SPD in einer sehr schwierigen Situation gewesen. Den Erfolg bei der Bundestagswahl habe den Sozialdemokraten zwei Jahre vor der Wahl 2021 noch niemand zugetraut. Der Kanzler betonte, dass die Geschlossenheit seitdem gehalten habe. «Niemand hat damit gerechnet, dass wir das so lange durchhalten, danke dafür.»

Scholz äußert sich zuversichtlich zu Haushaltsverhandlungen

Auf die schwierigen Verhandlungen mit Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) über die Schließung des 17-Milliarden-Euro-Lochs im Haushalt 2024 ging Scholz nicht im Detail ein. Ein paar Botschaften hatte er dazu aber dennoch parat.

Einen gravierenden Eingriff in die Sozialleistungen schloss der Kanzler aus. «Es wird in einer solchen Situation keinen Abbau des Sozialstaats in Deutschland geben», versprach er und erteilte FDP-Forderungen nach Einschnitten beim Bürgergeld eine eindeutige Absage.

Er zeigte sich dennoch zuversichtlich, dass es zu einer Einigung in der Ampel kommen wird. «Wir stehen nicht vor einer unlösbaren Aufgabe. Es müssen sich jetzt nur alle verständigen», sagte er. Zugleich räumte Scholz ein, die Situation sei sehr schwierig, «insbesondere, wenn man das nicht nur so machen kann, wie man das selber richtig findet, sondern sich auch noch mit anderen einigen muss». Am Sonntag soll weiterverhandelt werden.

Scholz warnt vor rechtsradikalen Tendenzen

Ganz still wurde es im Saal, als Scholz die Gefahr einer Ausbreitung rechtsradikaler Tendenzen in der Gesellschaft ansprach. «Wir haben eine Geschichte, und wir haben eine Verantwortung für die Demokratie. Und deshalb dürfen wir das nicht geschehen lassen», sagte Scholz.

Konfliktthema Abschiebungen umschifft

Beim Streitthema Migration machte Scholz es sich einfach. Das heikle Thema der Rückführung abgelehnter Asylbewerber umging er und konzentrierte sich darauf, für die Einwanderung von Fachkräften zu werben: «Deutschland braucht als Einwanderungsland auch weiter die Perspektive, diejenigen aufzunehmen, die für das Wachstum und den Wohlstand dieser Gesellschaft erforderlich sind.»

In den vergangenen Wochen hatte der Regierungskurs in der Migrationspolitik für einigen Unmut am linken Flügel der SPD gesorgt. Er entzündete sich vor allem an einem Satz des Kanzlers in einem «Spiegel»-Interview: «Wir müssen endlich im großen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben.»

Juso-Chef fordert Offensive von Scholz

Die Führung der Jusos hatte das als «direkt aus dem Vokabular des rechten Mobs» kritisiert. Der inzwischen zum Vorsitzenden des Jugendverbands gewählte Philipp Türmer schrieb dazu: «Ich könnte kotzen bei diesem Zitat.»

In der Aussprache über die Kanzler-Rede ging Türmer darauf nicht erneut ein. Er forderte Scholz aber auf, in der Ampel-Koalition mehr durchzugreifen. «Lieber Olaf, wer aus der Defensive will, muss Angriff spielen», forderte er. «Du bist der Chef der Regierung, nicht der Paartherapeut von Robert und Christian», sagte er mit Blick auf Habeck und Lindner.

Insgesamt kaum Kritik am Regierungskurs

Insgesamt gab es in der Aussprache aber kaum Kritik am Regierungskurs. Damit setzte sich das Bild fort, das die Sozialdemokraten schon am Freitag zum Auftakt des Parteitags abgegeben hatten. Bei der Wahl der Parteispitze verzichteten die Delegierten darauf, das Führungstrio aus den Parteivorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken sowie Generalsekretär Kevin Kühnert abzustrafen. Im Gegenteil: Esken und Kühnert verbesserten ihre Ergebnisse der letzten Wahl vor zwei Jahren deutlich.

Nach der Rede nahmen Klingbeil und Esken den Kanzler in ihre Mitte. Arm in Arm präsentierten sich die drei den applaudierenden Delegierten.

hfs/re/dpa/tt

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