Hamburger Flughafen: Glückliches Ende einer Geiselnahme
Von Benjamin Haller, Marc Niedzolka und Stephanie Lettgen
Über Stunden verhandeln Polizisten mit einem bewaffneten Mann. Der ist mit seinem Auto und seiner vierjährigen Tochter als Geisel auf das Vorfeld durchgebrochen. Am Ende gibt es ein kollektives Aufatmen.
Die Geiselnahme eines vierjährigen Mädchens auf dem Rollfeld des Hamburger Flughafens hat nach mehr als 18-stündigem Nervenkrieg ein glückliches Ende genommen. Die Polizei nahm den bewaffneten Geiselnehmer, der seine Tochter seit Samstag in seiner Gewalt hatte, widerstandslos fest. «Der Tatverdächtige hatte zusammen mit seiner Tochter das Auto verlassen», schrieb die Polizei auf X, früher Twitter. «Das Kind scheint unverletzt zu sein.»
Damit ging eine Geiselnahme zu Ende, die am Samstag im niedersächsischen Stade begonnen hatte. Von dort war der 35-Jährige zum Hamburger Airport gefahren. Am Flughafen durchbrach er gegen 20.00 Uhr mit seinem Auto, in dem auch seine Tochter saß, eine Absperrung am Tor zum Vorfeld des Airports. Er schoss auf dem Gelände in die Luft und warf Brandsätze aus dem Wagen. Mehr als 18 Stunden lang stand sein Auto danach neben einer Maschine der Turkish Airlines. Über Stunden versuchte die Polizei, die Geiselnahme unblutig zu beenden – am frühen Sonntagnachmittag schließlich mit Erfolg.
Geiselnehmer schon früher wegen Kindesentzugs verurteilt
Der Geiselnehmer vom Flughafen Hamburg ist schon in der Vergangenheit wegen einer Entführung seiner Tochter zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Diese Tat habe sich wohl im vergangenen Jahr ereignet, sagte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade der dpa. Genaue Angaben über die Höhe der Geldstrafe könne er erst morgen machen. Der Mann sei wegen Entziehung Minderjähriger vom Amtsgericht Stade verurteilt worden.
Bei dem Hamburger Flughafen-Geiselnehmer handelt es sich um einen 35 Jahre alten türkischen Staatsbürger. Wie die Polizei weiter mitteilte, war gegen ihn schon im März 2022 in Stade wegen des Verdachts der Entziehung Minderjähriger ermittelt worden. Damals sei er unberechtigt mit seiner Tochter in die Türkei gereist. Das Kind habe im weiteren Verlauf jedoch von der Mutter wieder nach Deutschland geholt werden können. Zuvor hatte bereits die «Bild» über das frühere Urteil berichtet.
Dank von Bürgermeister und Innensenator
«Vielen Dank der Hamburger Polizei für ihren Einsatz und das besonnene Vorgehen, mit dem das vierjährige Mädchen befreit und der Täter festgenommen werden konnte», sagte Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD). «Ich wünsche der Mutter, dem Kind und ihrer Familie viel Kraft, die schrecklichen Erlebnisse zu bewältigen.»
Während des nervenzehrenden Einsatzes der Polizei ruhte der Flugbetrieb im Norden, die Sperrung des Airports dauerte am Sonntagnachmittag noch an. Für die Polizei Hamburg war es laut Innensenator Andy Grote (SPD) «einer der längsten und herausforderndsten Einsätze der jüngeren Geschichte». Er danke allen Kolleginnen und Kollegen der Polizei für ihre starke Leistung.
Sorgerechtsstreit als Ausgangspunkt
Vorausgegangen war laut Polizei wohl ein Sorgerechtsstreit mit der Mutter. Die Ehefrau des Geiselnehmers, die sich in Stade bei Hamburg aufgehalten haben soll, hatte sich nach Angaben eines Sprechers wegen möglicher Kindesentziehung bei der Landespolizei gemeldet. Der Mann sei dort aufgrund von Sorgerechtsstreitigkeiten mit seiner Ex-Frau in eine psychische Ausnahmesituation geraten, teilten die Beamten mit. Vorausgegangen sei ein Streit, in dessen Verlauf der Mann die Mutter des Kindes zur Seite stieß und unmittelbar danach mit dem Mädchen im Auto in Richtung Hamburg flüchtete.
Während der stundenlangen Verhandlungen mit dem 35-Jährigen war das als Geisel im Auto festgehaltene Mädchen laut Polizei allem Anschein körperlich unversehrt. Das Kind sei in den Telefonaten mit dem Mann im Hintergrund zu hören gewesen, sagte Polizeisprecherin Sandra Levgrün der Deutschen Presse-Agentur.
Mutter des Kindes wartet am Flughafen
Bereits die ganze Nacht wurde verhandelt, sagte Levgrün, die während des Einsatzes betonte: «Wir setzen hier auf eine Verhandlungslösung.» Die Mutter wollte nach Angaben des Leiters des Kriseninterventionsteams des DRK Hamburg, Malte Stüben, «natürlich so schnell es geht zu ihrem Kind». Die Frau war demnach am Airport in direktem Kontakt mit dem DRK. Nach Stübens Angaben war auch eine Kinderärztin da, die sich nach der Geiselnahme um das vierjährige Mädchen kümmern sollte.
Tausende Menschen sind betroffen
Der Flughafen war am Sonntag weiter weiträumig gesperrt. Die Zahl der wegen der Geiselnahme am Hamburger Flughafen gestrichenen Flüge stieg stetig. Nach Angaben des Flughafens waren seit dem eigentlichen Betriebsbeginn um 6.00 Uhr bis 11.00 Uhr bereits 126 Flüge gestrichen worden. Fünf Ankünfte seien zu anderen Flughäfen umgeleitet worden. Für den gesamten Tag waren eigentlich 286 Flüge – 139 Abflüge und 147 Ankünfte – mit rund 34.500 Passagieren geplant. Bereits gestern waren 27 Flüge mit rund 3200 Passagieren betroffen.
Passagiere schildern Ängste
«Beängstigend», «gruselig» – so schilderten Passagiere, die aus ihren Maschinen geholt wurden, ihre Eindrücke. Eine junge Frau, die nach Mallorca fliegen wollte, sagte der dpa, sie habe ein Feuer gesehen und erst gedacht, das werde schnell wieder gelöscht. Dann habe sie gehört, es gebe einen Amoklauf, das sei schon gruselig gewesen. Tatsächlich hatte der bewaffnete Mann bei seiner Fahrt auf dem Flughafen heraus Brandflaschen geworfen, die auf dem Vorfeld Feuer auslösten.
Zahlreiche Passagiere verbrachten die Nacht in einem Flughafen-Hotel. «Wir haben hier im Endeffekt 250 Leute untergebracht», sagte Frank Kohlstädt, Leiter der DRK-Station am Flughafen. Rund 200 Menschen hätten zudem noch Hotelzimmer bekommen. Die Menschen seien eher aufgeregt gewesen als psychisch belastet.
Flugbetrieb wieder angelaufen
Nach dem Ende der Geiselnahme am Hamburger Flughafen ist der Flugbetrieb wieder angelaufen. «Der Flughafen hat wieder geöffnet», sagte ein Airport-Sprecher der dpa. Laut der Website flightradar24.com landete als erstes Flugzeug eine Eurowings-Maschine aus Hannover.
Schon zuvor Sicherheitsvorfälle
Bereits im Oktober war der Hamburger Flughafen gesperrt worden, damals allerdings wegen einer Anschlagsdrohung auf eine Maschine von Teheran nach Hamburg. Im Juli hatten Klimaaktivisten der Gruppe Letzte Generation den Zaun am Airport aufgeschnitten, fuhren mit Leihrädern in Richtung Rollfeld und klebten sich an mehreren Stellen auf Zubringerwegen fest. Die Folge: Am Flughafen ging über Stunden nichts mehr. Ähnliches erlebten zuletzt auch die Flughäfen in Berlin und München. Damals hatte es Forderungen nach einer Verstärkung der Sicherheit gegeben. Der Flughafen Hamburg sieht aber trotz Geiselnahme keine Versäumnisse bei der Sicherung des Geländes. «Die Sicherung des Geländes entspricht allen gesetzlichen Vorgaben und übertrifft diese größtenteils», sagte eine Flughafensprecherin der dpa.
Kritik an Sicherheitsmängeln auf Flughäfen
Gleichwohl gab es aber auch Kritik an den Sicherheitsstandards an deutschen Flughäfen. Der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) etwa reicht das bisherige Vorgehen nicht mehr. «Es ist nur schwer vermittelbar, dass etwa Weihnachtsmärkte mit Betonbarrikaden gesichert werden, und unsere Flughäfen werden als Hochsicherheitsbereiche von Betreibern stiefmütterlich behandelt», sagt DPolG-Bundesvize Heiko Teggatz. Die Politik unternehme da viel zu wenig. «Da vermisse ich auch eine Initiative von Bundesinnenministerin Nancy Faeser.»
Im «Spiegel» sagte der Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt: «Der Hamburger Flughafen ist nicht sicher – und andere Airports in Deutschland auch nicht.» Flughäfen seien seit Jahrzehnten als bevorzugte Angriffsziele für Terroristen bekannt. Auf den Vorfeldern stünden Maschinen mit Zehntausenden Litern Kerosin im Bauch und Hunderten Passagieren an Bord.» Großbongardt bezeichnete daher die Flughafenbetreiber und Behörden als «unfassbar naiv».
Flughafenverband: 100-prozentiger Schutz unmöglich
Der Flughafenverband ADV hält einen vollständigen Schutz der Sicherheitsbereiche an Airports für ausgeschlossen. Bei großen Flughäfen könnten die Zaunanlagen eine Länge von mehr als 40 Kilometern erreichen. Hinzu kämen Tore und Zugangsanlagen, die an bestimmten Stellen auch aus Sicherheitsgründen – etwa für die Feuerwehr – schnell passierbar sein müssten, teilte der Verband mit. Auch mit Blick auf das Eindringen eines bewaffneten Mannes auf das Vorfeld des Hamburger Flughafens erklärte der Verband: «In diesen Fällen ist ein 100-prozentiger Schutz gegen das Durchdringen mit brachialer Gewalt unmöglich.» Der 35-Jährige hatte mit seinem Auto die Absperrungen an der Zufahrt durchbrochen.
Der Verband betonte: «Die mit den zuständigen Aufsichtsbehörden und der Polizei abgestimmten Sicherungsmaßnahmen der Flughafenbetreiber gehen an allen Standorten in Deutschland über die gesetzlichen Anforderungen hinaus.» Neben den baulichen Maßnahmen seien Alarmketten etabliert, die bei allen bisherigen Vorfällen einwandfrei gegriffen hätten. «Der Flugbetrieb wurde sofort nach dem unbefugten Zutritt eingestellt. Reisende und Beschäftigte sind nicht zu Schaden gekommen.»
hfs/re/dpa/tt