Soziales

„Geschwister geben Nähe und Sicherheit“: Diplom-Psychologin Johanna Schneider aus dem SOS-Geschwisterhaus Bremen zum Tag der Geschwister am 10. April

„Geschwister sind eine wichtige Ressource für Kinder. Gerade in schwierigen Zeiten geben sie einander Stabilität und sind wichtige emotionale Stützen“, sagt Diplom-Psychologin Johanna Schneider, die als Fachberaterin die Arbeit im SOS-Geschwisterhaus in Bremen unterstützt. Dort werden Geschwisterkinder nach einer Inobhutnahme gemeinsam aufgenommen und intensiv begleitet. Im Interview erklärt sie, warum Geschwister – nicht nur in Extremsituationen – so wichtig füreinander sind, wie man belastete Beziehungen stärken kann und welche Rolle Eltern für harmonische Geschwisterbeziehungen spielen können.

Frau Schneider, im Bremer Geschwisterhaus werden Geschwister nach einer Inobhutnahme gemeinsam untergebracht. Wie hilft es den Kindern in einer solchen Situation, wenn sie zusammenbleiben können?

In der Tat ist das eine extreme und beängstigende Situation für Kinder. Sie kommen in ein neues, fremdes Umfeld mit ihnen vollkommen unbekannten Menschen. Viele Kinder hängen auch noch sehr an den Eltern. Denn was immer auch vorgefallen ist: sie kennen es nicht anders und haben im Laufe der Zeit auch Überlebens- und Anpassungsstrategien für ihre Situation entwickelt. In solch einer Situation ist es unersetzlich, einen vertrauten Menschen an der Seite zu haben; jemanden, dem man nichts erklären muss, der Nöte und Ängste nachvollziehen kann, der einen kennt. Das alles können Geschwisterkinder. Auch körperliche Nähe ist in so einer Situation für viele Kinder sehr wichtig: sich in den Arm nehmen, in einem Zimmer oder sogar in einem Bett schlafen. So spüren sie: ich bin nicht allein in dieser neuen, beängstigenden Lage. Gerade in schwierigen Zeiten geben Geschwister einander Stabilität und sind wertvolle emotionale Stützen.

Unabhängig von solchen Extremsituationen: Warum sind Geschwister so wichtig füreinander?

Geschwister können lebenslang füreinander da sein. Sie geben sich Nähe und Sicherheit. Durch die gemeinsamen Lebenserfahrungen werden Verbindungen geschaffen, die kaum eine andere menschliche Beziehung abbilden kann. Geschwister geben ehrliches Feedback, sie sind im Idealfall „Sparringspartner“. Und sie sind vor allem in der Kindheit ein wichtiges „Lernfeld“: Geschwister lernen, miteinander Konflikte auszutragen und beizulegen, sich zu vertragen und Kompromisse zu finden. Gegenüber Geschwisterkindern kann man Gefühle ungefiltert zeigen und mal eine Grenze überschreiten – das alles sind prägende Erfahrungen für junge Menschen, die auch im Erwachsenenalter noch wertvoll sind.

Gibt es Situationen, in denen sich Geschwisterbeziehungen auch negativ auswirken können?

Keine Beziehung ist ganz schwarz oder ganz weiß. Bei schwierigen Lebensumständen, wie wir sie bei den Kindern hier im Geschwisterhaus eben häufig antreffen, kann es vorkommen, dass die Beziehung zu den Brüdern und Schwestern eher belastend als unterstützend wirkt. Manchmal reproduziert ein Geschwisterkind gewaltvolle Muster aus dem Elternhaus oder es gibt eine sehr ausgeprägte Rivalität in der Geschwistergruppe – das kann passieren, wenn die Eltern den Kindern sehr wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben und darum ein großer Konkurrenzkampf um dieses rare „Gut“ eingeübt wurde. Was uns auch oft begegnet, ist übertriebene Fürsorge eines älteren Geschwisterkindes für die Jüngeren. Manchmal müssen die Älteren die Rolle der Eltern übernehmen und kümmern sich um die Kleinen. Diese Rollen können aber langfristig belastend sein, denn sowohl das ältere als auch das jüngere Kind haben so wenig Raum, sich individuell zu entwickeln.

Können Eltern helfen, eine Geschwisterbeziehungen zu stärken?

Eltern sollten immer das Gemeinsame, das Verbindende in den Vordergrund stellen: Positive gemeinsame Erlebnisse schaffen und verbindende Rituale einführen; wenn immer möglich, den Gemeinsinn zwischen den Geschwistern stärken. Das funktioniert auch gut über geschwisterliche Solidarität gegenüber den Eltern – und das müssen diese dann auch aushalten. Auf der anderen Seite ist es auch hier immens wichtig, Abgrenzung zu ermöglichen; die individuelle Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Geschwisterkindes im Blick zu haben und zu befördern. Eltern müssen anerkennen, dass die Kinder unterschiedlich sind und dies auch fördern, indem sie die individuellen Stärken und Vorlieben sehen und zulassen.

Was können Gesellschaft und Politik für Geschwister tun?

Geschwister geben Nähe und Sicherheit – im Alltag, aber gerade auch in Extremsituationen. Ich finde diese Tatsache sollte noch mehr ins Bewusstsein rücken und auch im Bereich der Kinder- und Jugendpolitik mehr Berücksichtigung erfahren. In der Jugendhilfe fehlen gemeinsame Plätze und Strukturen für Geschwisterkinder. Die Tatsache, dass Geschwister, die ihre leiblichen Eltern verlassen müssen und in stationärer Erziehung leben, oftmals aus rein logistischen und organisatorischen Gründen getrennt voneinander aufwachsen müssen, ist dramatisch. Geschwister sollten gerade in schwierigen Situationen zusammenbleiben können – hier muss strukturell viel mehr für sie getan werden.

hfs/re/ots/dpa/tt

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