Putins zunehmender Kontrollverlust in Zentralasien
Im Hinblick auf diverse Machtverschiebungen zwischen alten und neuen Großmächten, dem Kampf um Rohstoffe bei einer stetig wachsenden Weltbevölkerung und gegen den Terrorismus, lohnt sich, vor dem Hintergrund eines aggressiv kriegerischen Russlands, mehr denn je ein Blick auf Zentralasien.
Globale Bedeutung
Von der geopolitischen Relevanz Zentralasiens zeugt das Konkurrieren Russlands, Chinas und des Westens um Gewicht in der Region. Traditionell ist der Kreml sehr stark in die dortigen Geschehnisse involviert, die russischen Minderheiten zählen zu den gesellschaftlichen Eliten. Außerdem steht in Kasachstan das Kosmodrom Baikonur, der wichtigste Weltraumbahnhof der Russischen Föderation.
Bedeutsam sind die Länder aber vor allem wegen ihrer Rohstoffe, wie z.B. Hydrokarbonreserven, Erdöl und Erdgas. Kasachstan förderte beispielsweise 2018 mehr „schwarzes Gold“ als Norwegen, Katar oder Venezuela. Überdies ist es mit einem Weltmarktanteil von rund 40% der wichtigste Produzent von Uran. Tadschikistan ist einer der 20 größten Baumwollproduzenten und verfügt über relevante Aluminium-Ressourcen.
Russlands schwindende Macht
Seit dem Angriff auf die Ukraine und einer aus russischer Sicht alles andere als gut verlaufenen Kriegsführung hat sich der Fokus Moskaus verschoben. Die fest verankerten Top-Down Führungsdoktrien, könnten sich wieder einmal als hinderlich erweisen, wenn es darum geht, parallel flexibel auf sich zeitgleich verändernde außenpolitische Herausforderungen reagieren zu können. Der Kreml befürchtet nun zu Recht, dass die beiden Großmächte USA und China die Situation ausnutzen, um Russland als Hegemon der Region abzulösen. Bis zum 20. August 2022 fanden unter dem Namen „Regionale Zusammenarbeit – 2022 “ in Tadschikistan gemeinsame Militärübungen statt, an denen neben den USA und Pakistan auch vier Länder Zentralasiens teilnahmen – einzig Turkmenistan blieb ihnen fern. Generell scheint die USA seit Ende Februar ein deutlich größeres Interesse zu zeigen als noch zuvor. Die wesentliche Motivation der amerikanischen Führung in diesem Teil der Welt ist seit langem das Erschließen von Rohstoffquellen und das Abschneiden von Gegnern und Rivalen von eben jenen.
Russlands Reaktionen auf das amerikanische Engagement der jüngeren Vergangenheit kommen verspätet und zögerlich. Das im Osten bis zum 5. September abgehaltene Manöver „Wostok 2022“ kann hierbei nicht darüber hinwegtäuschen, dass Moskaus offensichtliche Schwäche das Aufflammen von Konflikten im seinem Einflussbereich begünstigt. Das Manöver wirkte eher wie eine relativ hilflose Antwort auf das wachsende militärische Engagement der USA in der Region. Das gesamte OVKS-Militärbündnis, welches die Gewährleistung von Sicherheit und Souveränität seiner Mitgliedsstaaten unter Russlands Führung zur Aufgabe hat und welchem neben zentralasiatischen Ländern auch Belarus, Serbien und Armenien angehören, wird mehr und mehr infrage gestellt.
Die abnehmende außenpolitische Bedeutung Russlands ist hierbei kein neues Problem – China operiert seit langem vornehmlich strategisch wirtschaftlich in der Region, um seine Einflusssphäre auszudehnen und neue Abhängigkeiten von Peking zu etablieren. Anstatt parallel Militärstützpunkte aufzubauen, errichtet man Basen paramilitärischer Polizeikräfte zur „Unterstützung“ der Länder, man vergibt großzügig Kredite und wirbt mit wachsendem Erfolg für das chinesische Staats- und Gesellschaftsmodell. Damit verbundenen ist der Export von Technologie zur effektiven Kontrolle der Bürger, wobei die erhobenen Daten China selbst Einsicht, Einfluss und Auswertbarkeit (uneingeschränkte Nutzung von gewonnenen Big-Data zu wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Zwecken) gewähren. China investiert erheblich in die vierte industrielle Revolution: 6G-Kommunikation, künstliche Intelligenz und Quantencomputer. Auf diesen Feldern strebt es nach technologischer Vorherrschaft, um möglichst viele Abhängigkeiten zu erzeugen. Zur besseren Anbindung der örtlichen Rohstoffquellen an das Land der Mitte werden im Zuge des Projektes „Neue Seidenstraßen“ (engl. „Belt-Road-Initiative“) Fern- und Seeverkehrsverbindungen geschaffen, neue Schienenverbindungen realisiert und Datenautobahnen verschaltet. Russisches Staatsgebiet wird aufgrund der geopolitischen Lage natürlich nicht mit ein- und angebunden. Noch im Mai 2017 versuchte Putin in Peking den Eindruck zu erwecken, er wäre gleichberechtigter Partner der chinesischen Initiative, die Realität sieht anders aus. China schafft, was der Westen und Russland versäumten: Das Senken der Armut, das Erhöhen des Wohlstandes und die Steigerung der Stabilität bei seinen strategischen Partnern. Mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) wurde bereits 2001 eine Plattform mit Sitz in Peking geschaffen, welche sich mit Wirtschafts- und Handelsfragen, sowie der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit und Stabilität der Region befasst. Man könnte das Format einerseits als mächtigen Gegenpol zu den G7 betrachten, andererseits als Reaktion auf die von Russland initiierte und dominierte Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (heute: „Eurasische Wirtschaftsunion“). Geschaffen wurde von den Chinesen die weltweit größte Regionalorganisation, deren Länder etwa 40% der Weltbevölkerung stellen. Weitere Mitglieder sind Kasachstan, Kirgistan, Russland, Tadschikistan, Usbekistan, Indien, Pakistan und der Iran. Als Dialogpartner werden geführt: Armenien, Aserbaidschan, Kambodscha, Nepal und Sri Lanka.
Diese Gesamtsituation führte unmittelbar dazu, dass der erste Auslandsbesuch des russischen Präsidenten Putin, nach Beginn seines Angriffskrieges gegen die Ukraine, Zentralasien galt.
Eingeschränkte Souveränität
Den Eigeninteressen der großen Nachbarn steht eine problematische Sicherheitslage der zentralasiatischen Staaten gegenüber. In Anbetracht der immerwährenden Gefahr des Terrors aus dem südlich gelegenen Afghanistan können die Länder militärische oder polizeiliche Hilfe durchaus gebrauchen. Ob Russlands Ressourcen, die derzeit in der Ukraine verschlissen werden, dafür ausreichen, bleibt abzuwarten. Der nicht nur von China längst herausgeforderte Ruf als Ordnungsmacht Zentralasiens ist bereits beschädigt. Offizielle aus Kirgistan warnten zwar in den vergangenen Wochen wiederholt vor Terroranschlägen des Taliban-Regimes – angeblich gesteuert von den USA – ob dieser offenkundige, auf schlechten Erfahrungen basierende, Anti-Amerikanismus jedoch ausreichen wird, um das Land weiterhin an Russland zu binden, es sich nach China bewegt, oder den Europäern näher-bringen wird, bleibt abzuwarten.
Spannungen und gemeinsames Handeln
Die Notwendigkeit der Kooperation, um nicht zwischen den Großmächten aufgerieben zu werden, ist offensichtlich. Es gibt jedoch mannigfaltige historische Hintergründe und Ursachen für Konflikte in Zentralasien, welche erst kürzlich wieder zum Aufflammen von Kampfhandlungen zwischen Tadschikistan und Kirgistan führten. Quasi alle Großmächte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts haben in der Region direkt oder durch Stellvertreter Kriege geführt, Grenzen wurden willkürlich und ohne Rücksicht auf Ethnien gezogen und große Abschnitte sind bis in die Gegenwart nicht demarkiert. Das führt unweigerlich zu Grenzkonflikten. Undurchsichtige Verbindungen zwischen wirtschaftlichen und politischen Eliten beschränken zudem staatliche Handlungsspielräume im Sinne volkswirtschaftlich sinnvollem Handelns. Heute spielt das Konkurrieren um knapper werdendes Trinkwasser eine zusätzliche Rolle bei Auseinandersetzungen.
Dem gegenüber stehen durchaus vorhandene und mit Skepsis begleitete Bestrebungen für mehr gemeinsame Agitation, bei denen Usbekistan und Kasachstan vorangehen. Nach relativ auswirkungsarmen Treffen der Jahre 2018 und 2019 kam es Ende August 2022 in Tscholpon-Ata zu einem neuerlichen Gipfeltreffen der fünf zentralasiatischen Staatschefs, wieder verbunden mit Plänen für und der Hoffnung auf mehr industrielle und verkehrstechnische Zusammenarbeit, sowie auf weitere gemeinsame Infrastrukturprojekte. Im Ergebnis haben Kirgistan und Usbekistan vergangene Woche den Bau einer neuen Eisenbahnlinie zwischen den Ländern bekannt gegeben, natürlich verlängert bis nach China. Auch Hilfen bei der Grenzziehung zwischen Tadschikistan und Kirgistan wurden angeboten und thematisiert, die seither zugenommenen Konflikte beweisen jedoch, dass es bei dieser Frage eher Rück- als Fortschritte gibt. Erwähnenswert ist zudem, dass Russland gegenwärtig nicht mehr als Kooperationspartner für gemeinsame Projekte infrage zu kommen scheint.
Wenngleich nicht zu viel kurzfristiger Fortschritt erwartet werden sollte, alleine die Vereinbarung, sich jährlich zusammenzusetzen, um Kooperationsmöglichkeiten auszuloten, ist als Fortschritt und Möglichkeit, Konfliktpotentiale nach und nach abzubauen, zu werten.
Neutralitätspolitik als Ausweg
Angesichts der Tatsache, dass Tadschikistan ebenso eine umfangreiche paramilitärische chinesische Polizeipräsenz im Land zulässt, ist deutlich die Linie erkennbar, mit allen Großmächten kooperieren zu wollen, ohne sich auf eine Seite zwingen zu lassen. Diese Art einer Neutralitätspolitik ist möglicherweise das verbindende Element in einer Region, dessen Länder ständig in der Gefahr schweben, ihre Unabhängigkeit zu verlieren. Die Blaupause für dieses Vorgehen liefert hierbei Usbekistan, welches seit langem – aus der Innensicht recht erfolgreich – einen solchen Politikansatz verfolgt. In dieses Bild passt ebenso die Warnung der Botschaft Kirgistans, gerichtet an ihre Landsleute, welche sich in Russland aufhalten, unter Androhung von bis zu 10 Jahren Haft und der Beschlagnahmung von Eigentum, nicht an der russischen Invasion der Ukraine teilzunehmen.
Europas Rolle
Für uns Europäer könnte Zentralasien diesen Winter aufgrund seiner Energiereserven zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Ursula von der Leyen besuchte im Juli das benachbarte Aserbaidschan und hat im dortigen Baku ein Gasabkommen mit Präsident Aliyev unterzeichnet. Ähnliches wäre mit den Ländern Zentralasiens denkbar, Turkmenistan, Usbekistan, (Pakistan) und Kasachstan verfügen über im Vergleich noch größere Fördermengen. Diese könnten für die Diversifizierung europäischer Gasimporte Bedeutung erlangen.
Gesteigertes Engagement zeigt die EU seit 2016, als beschlossen wurde, eine neue Zentralasienstrategie zu entwickeln. Vom Rat gebilligt wurde diese schließlich 2019. Zwischen 2014 und 2020 investierte die EU mehr als 1 Mrd. Euro in die Entwicklungszusammenarbeit. In diversen Projekten setzt sie sich ein für:
– Bessere Lebensbedingungen in ländlichen Gebieten
– Mehr Studentenaustausch mit der EU
– Verstärkte regionale Zusammenarbeit
– Verbesserte Gesundheitsdienste
– Bessere allgemeine und berufliche Bildung für mehr Menschen
– Stärkung der regionalen Sicherheit und Gefahrenabwehr
– Stärkung der Rechtsstaatlichkeit
„Der Umfang der Beziehungen der EU hängt von der Bereitschaft der einzelnen zentralasiatischen Staaten ab, Reformen vorzunehmen und Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Unabhängigkeit der Justiz zu stärken sowie die Wirtschaft zu modernisieren und zu diversifizieren …“ beschreibt ein lobenswertes Endziel, welches jedoch Fortschritte eher verhindert, als zu einer realen Verbesserung der Verhältnisse vor Ort zu führen – so der Europaabgeordnete Engin Eroglu MdEP (renew europe. | FREIE WÄHLER), Mitglied der EU-Zentralasien-Delegation.
„Die EU sollte versuchen, als vermittelnde neutrale Seite, Hilfe bei der Ziehung nicht markierter Grenzen in der Region zu leisten und Unterstützung bei der Formulierung gemeinsamer Ziele anzubieten – und das ohne Vorbedingungen. Davon würden auch die Handelsbeziehungen profitieren, welche im beidseitigen Interesse liegen.“, führte Eroglu weiter aus. Bereits heute gehört die EU zu den wichtigsten Handelspartnern (in Teilen ist sie der wichtigste) und Direktinvestoren, während ihr politischer Einfluss nahezu bedeutungslos ist. „Anstatt überladene Kooperationsvereinbarungen zu fordern, würde ich daher eine Politik der kleinen Schritte für punktuelle Verbesserungen und unter langfristigen, geopolitisch-strategischen Erwägungen bevorzugen“, präzisierte Eroglu weiter.
Renaissance des Westens
Aus deutscher und europäischer Sicht ist es wichtig, dem Export des europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell, deutscher/britischer Verwaltungstugenden, sowie rechtsstaatlicher Strukturen und Mechanismen als Gegenmodell zu den sich ausbreitenden autoritären Staatsideen, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Damit soll nicht gemeint sein, auf Basis einer „wertebasierten“ bzw. „feministischen“ Außenpolitik andere Länder bevormunden zu wollen. Gemeint ist das Angebot, Partner an unseren Errungenschaften teilhaben zu lassen, sie von den Vorzügen der Marktwirtschaft, des Freihandels und einer liberalen rechtsbasierten Gesellschaftsordnung zu überzeugen, ohne zu hohe Barrieren zu errichten. Wenngleich eine mögliche Modernisierung in Zentralasien in absehbarer Zeit eher keine Abkehr von autoritären Regierungen bedeuten mag, so ist es dennoch wichtig, langfristig hierfür das Potential zu schaffen. Es geht darum, langsam aber stetig neue tragfähige Partnerschaften herbeizuführen. Wie wichtig das wäre, hat die EU mittlerweile erkannt. Das „Global Gateway-Projekt“ soll als freiheitlicher Konterpart zur Seidenstraße den Machtbereich Chinas und Russlands in der Welt zurückdrängen und neue Mitstreiter für den Westen gewinnen oder zurückgewinnen.
Fazit
Mit etwas weniger Arroganz und weniger Naivität, mit Toleranz und vorausschauendem, strategischem außenpolitischen Handeln, wird der Westen und die EU als Teil von ihm, auch in Zukunft das Privileg behalten, die liberale regelbasierte Weltordnung gestalten und die relevanten technischen Standards setzen zu können. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, die zunehmende Machtstellung des Autokratismus in der Welt zurückzudrängen. Für Engin Eroglu MdEP (renew europe. | FREIE WÄHLER) steht heute fest: „Ob uns eine „Renaissance des Westens“ gelingt, wird entscheidend sein, für die Frage, wie die Welt unserer Kinder und Enkelkinder aussehen wird“.
hfs/re/ots/dpa/tt